Kalender 2006 - November

Irgendwo in den Wolkenwäldern rastete Nuntius. Als er mit dem Dämmerlicht wieder erwachte, fixierten ihn zwei helle Augen: "Schläfst du noch oder tust du nur so?" Nuntius blinzelte die kleine Gestalt an, aus deren koboldartigem Gesicht wirr abstehende Federhaare wuchsen. "Hast du noch nie ein Kaktuskäuzchen gesehen?", wisperte das aufgeregte Flatterwesen. Nuntius verneinte. "Kein Kunststück. Es gibt nur wenige von uns Elfenkäuzchen. Ich bin gewissermaßen der Struwwelpeter unter den Eulen. Mein Name ist übrigens Juranda und, wenn ich vorstellen darf: das ist meine zauberhafte Freundin Parvula Sie ist auch ein Elfenkäuzchen, aber ihre Sippe stellt die kleinsten Eulen auf Erden. Wir werden dich fortan begleiten." "Das ist nicht euer Ernst", wehrte sich Nuntius und rieb sich den Blick scharf. "Ich fliege doch nicht mit Eulenzwergen bis ans Ende der Welt!" "Bilde dir nicht ein, erfolgreich wären nur die Großen und Starken. Die Kleinen sind zäher!" gab Juranda weise zurück und ließ keinen Widerspruch mehr gelten. Alsdann flogen sie zu dritt. Bald lag die tropische Landschaft hinter ihnen, sie kämpften sich gegen die kalten Winde der Hochgebirge und schwebten weiter über endlos anmutendes Ödland und moosbedeckte Torfsümpfe.

Im Land des Rauches trafen die Gesandten im Zeichen der Eule rechtzeitig ein. Sie irrten lange durch karge, fast verwaiste Siedlungen, besprachen sich mit euligen Freunden und Anverwandten, aber sie bekamen keine rechte Spur zu fassen. Ratlos suchten die Eulen noch einem geeigneten Schlafplatz. Vor ihnen log der letzte Ort auf Feuerland, durch den nur Wind jammerte. Im Gebälk eines maroden Kirchturms wollten sie Quartier nehmen. Doch kaum drinnen, fauchte sie etwas katzenartig an: "Packt euch! Hier ist mein Revier." Dem Dunkel entsprang wild und stark Adventus, der aber verdutzt sogleich seinen Angriff stoppte: "Was grinst ihr denn so entgeistert?" Im lieblichen Dreiklang antwortete es: "Eine Schleiereule!" "Ja, und?", herrschte Adventus zurück, "was bringt euch darüber so in Verzückung?" Juranda fasste sich als Erster. "Kennst du Novatrix?" "Wer will das wissen?", murrte der Hausherr. "Die große Eulemission," zirpte Parvula. Adventus musterte die staubigen Gestalten. Nuntius spürte seinen Zweifel und erklärte: "Die Zeit für das allerletzte Korn der Weisheit ist reif. Die Eulenwelt hat noch langer Suche einen kindlichen Hort gefunden. Aber wir wissen nicht, wohin genau Novatrix einst aufbrach, um es für eben jene Zeit aufzubewahren." Adventus atmete tief: "Solange ich denken kann, hat niemand mehr noch Weisheit gefragt und nach den Opfern dafür erst recht nicht." "Kanntest du diese tapfere Eule? Dann musst du uns helfen!", forderte Nuntius nun eindringlich. "Meine Großmutter hat sich damals geopfert. Ja, ich weiß, in welche Gegend sie wollte, aber keine Eule kehrt zurück aus dem ewigen Eis, und ob sie jemals dort ankam", sprach Adventus traurig. Die Eulenboten blickten sich erleichtert an, und die sanfte Parvula hauchte: "Eine Eule allein nicht, aber wir vier zusammen werden es schaffen." Adventus blickte ungläubig hinab auf die Handvoll Federn, holte dann aber doch ein dünnes Leinen. Darauf hatte Novatrix vor Zeiten ihre Reiseroute notiert und sie der Tochter hinterlassen. Jetzt sollte also die Reihe an ihrem Enkel und seinen Gefährten sein, diesen ungewissen Weg auf sich zu nehmen. Vor Kap Horn türmten sich gewaltige Wellenberge. Ein Seemann schrie tief unter ihnen von einem schwankenden Schiffsdeck: "Eine Eule fangen!" Parvula zuckte im Flug zusammen, doch Adventus beschwichtigte sie: "Er meint damit nur: plötzlicher Wind von vorn." Sturmgepeitscht öffnete sich von ihnen die Pforte zur Antarktis ...