Kalender 2006 - Mai

Ferrus flog über die Länder des goldenen Lichts Er war hoffnungsvoll gerade hier, wo die Menschen die Gelassenheit einer weichen Teestunde lebten, einen Ort für das Korn zu finden. Es war ein Wolkenbruch, der den reisenden Vogel Unterschlupf suchend in einen verwunschenen Tempelgarten trieb Die kleine Pagode in seinem Innern schien schon lange verlassen, doch noch immer leuchtete das Blattgold ihrer Kuppel sehr heilig. Ferrus erinnerte sich, dass Gold die Farbe der Weisheit ist. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen, und so betrat er neugierig das alte Gemäuer. Im Halbdunkel öffnete sich ein runder Raum von dessen Wänden blasse Figuren schauten. Sonst war hier nichts und niemand, nur müdes Laub raschelte über den Lehmboden. So hockte sich der Uhu in die Stille und wartete auf das Ende des Regens, als er unvermittelt hinter sich einen Windhauch spürte. Ferrus drehte blitzschnell seinen Kopf um 270 Grad und erspähte zwei blitzende Augen, die ihn aus einem dreieckigen Gesicht anblickten: "Hast du dich verirrt?", herrschte ihn die Tempeleule an. Der Fischuhu staunte: "Ah, welch' seltene Begegnung, eine Maskeneule." Die schaute den Eindringling argwöhnisch an und verrenkte sich bei ihrer Betrachtung derart eigenwillig, dass es aussah, als trüge sie schwer an einem Buckel. Ferrus dachte bei sich, jetzt weiß ich, weshalb man diese Schwestern auch Fratzeneulen nennt, aber er verkniff sich seine spitze Zunge und erklärte sich höflich.

Die Maskeneule Noctula wer Gesellschaft nicht gewohnt. Seit Ewigkeiten hauste sie in einer nahen Baumhöhle und empfand sich als Nachtwächterin des Tempels. Dabei hatte sie manchem unwillkommenen Wesen das Fürchten gelehrt. Aber einen Artgenosse konnte sie nicht beeindrucken. So saßen die zwei bald einträchtig beieinander und sprachen lange über den Wandel der Zeiten und menschliche Irrwege.

Noctula raunte dann sehr skeptisch: "Schau, statt ihre inneren Gärten zu kultivieren, rauchen sie lieber Rauschwerk und halten Halluzinationen für Geistesblitze!" Die Maskeneule zeigte dem Fischuhu geheime Plantagen, wo der Stoff dafür spross. "Sieh nur, welch' gigantische Ausmaße! Kriege wurden darum geführt. Sie nennen das Zeug ‚Pflanze der Weisheit', doch sie stimuliert nur irrsinnige Sucht. "Was kann dagegen schon unser letztes Korn der Weisheit ausrichten", haderte Noctulo, "Den Trug entschleiern", gab Ferrus klarsichtig zurück. "Zweifle nicht, denn es ist unsere Aufgabe, eine weise Weltenwende herbeizuführen. Du musst wieder der inneren Kraft des Lebens vertrauen".

Ferrus Worte verscheuchten langsam den Missmut der Tempeleule. Ein paar Nächte jagten und tafelten sie zusammen, dann war Noctula bereit, ihr Eremitendasein aufzugeben. Viel zu lange war sie der dunklen Seite des Eulenmythos gefolgt. Plötzlich war die einst machtvolle Lust, als unheimliche Nachtgestalt die menschliche Angst zu schüren, in ihr erschöpft. Da sie sich aber nützlich machen konnte, strotzte der Nachtvogel vor ungeahnter Unternehmensfreude. Ferrus war sich sicher, diese listreiche Eule würde mit ihren runden, kräftigen Schwingen den Weg bis nach Afrika schaffen, um auf dem schwarzen Kontinent nach dem Rechten zu schauen ...