Kalender 2006 - Januar

Es war eine Eule, die das letzte reife Korn der Weisheit fand und en einem verborgenen Ort dem ewigen Eis überließ Lange war sie geflogen, durch Wind und Wetter, bis sie jenen Platz fand, von dem sie glaubte, dass hier kein anderes Wesen unverhofft herfände und möglicherweise den Schatz raubte. An einem schmalen Grat, in einem wohlgeformten Eistropfen, wartete fortan das Korn in der Zeit.
Es war schlichtweg notwendig, dass ein Lebewesen diesen letzten großen Schatz der Welt sicherte. Schon lange fruchteten die Samen der Weisheit nicht mehr gut. Weil das Korn nur sehr langsam spross, überwucherten es immerzu schnellwüchsige Emporkömmlinge wie das Faulmoos, die Gierreben oder das Egomanenschlingkraut. Und da unter den Menschen das Pflegen und Hegen aus der Mode gekommen war, vordorrten die Weisheitskörnchen schließlich samt und sonders. Bis auf dieses eine.
Dass eine Eule seine Rettungsmission auf sich nahm, war nicht weiter verwunderlich, gelten doch Eulen seit Urzeiten als Hüterinnen der Weisheit. Klar war auch, es würde eine von den Weltbürgerinnen unter den Eulen sein. Eine Schleiereule eben, deren Sippe auf fünf Kontinenten zuhause ist. Und weil die Eulen mit den Herzgesichtern oft in guter Nachbarschaft mit den Menschen lebten, waren sie es, die zuerst die zunehmende Abwesenheit der Weisheit bemerkten. Und so hat es sich zugetragen:
Eines Nachts kreischte eine Schleiereule gar jämmerlich und rief mit dem Schrei ihre große Familie zusammen. Sie hatte in der Dämmerung auf einem öden Marktplatz das letzte lebende Korn der Weisheit aufgelesen und wusste nicht, was damit werden sollte. Doch auch die nächtliche Eulenversommlung kannte keinen geeigneten Nährboden. So blieb nur, das Weisheitskorn im Polareis einzufrieren, bis die Menschen sich wieder eine klügere Zeit wünschten. Aber wie sollte das Korn dorthin gelangen? Nicht die Weite des Fluges war das Problem, sondern die große Kälte, die dort herrschte. Keine Schleiereule hatte jemals in der Antarktis gelebt.
Dennoch begab sich im Morgengrauen die besonders weitsichtige und warmherzige Schleiereule namens Novatrix auf den ungewissen Weg. Sie musste einfach der großen Verpflichtung, die die Eulengilde von Anbeginn der Zeit in sich trug, folgen. So flog Novatrix tapfer viele nur dämmernde Tage und stockfinstere Nächte, bis sie halb erfroren endlich den schmalen Grat mit dem funkelnden Eistropfen erreichte. Keiner sah die stille Freude dieses Augenblicks, in dem die Eule wie lichter Glanz erstrahlte obgleich sie ihr nahes Ende schon spürte. Auf dem Rückflug geriet der müde Vogel sehr bald in einen wilden Sturm, der ihn schließlich zu Boden drückte. Zwei Schneeeulen sahen den Absturz zwar, aber sie konnten die Eulenschwester nicht mehr retten. Mit letzter Kraft verriet Novatrix den weißen Eulen nur noch, wo sie das Weisheitskorn verwahrt hatte. So wurden die Schneeeulen zu Hüterinnen des schlafenden Schatzes und da die weißen Eulen wirklich sehr schweigsame Gesellen waren, blieb das Versteck auch lange geheim ...