Es war eine Eule, die das letzte reife Korn der
Weisheit fand und en einem verborgenen Ort dem ewigen Eis überließ
Lange war sie geflogen, durch Wind und Wetter, bis sie jenen Platz fand, von
dem sie glaubte, dass hier kein anderes Wesen unverhofft herfände und
möglicherweise den Schatz raubte. An einem schmalen Grat, in einem
wohlgeformten Eistropfen, wartete fortan das Korn in der Zeit. Es war
schlichtweg notwendig, dass ein Lebewesen diesen letzten großen Schatz
der Welt sicherte. Schon lange fruchteten die Samen der Weisheit nicht mehr
gut. Weil das Korn nur sehr langsam spross, überwucherten es immerzu
schnellwüchsige Emporkömmlinge wie das Faulmoos, die Gierreben oder
das Egomanenschlingkraut. Und da unter den Menschen das Pflegen und Hegen aus
der Mode gekommen war, vordorrten die Weisheitskörnchen schließlich
samt und sonders. Bis auf dieses eine. Dass eine Eule seine Rettungsmission
auf sich nahm, war nicht weiter verwunderlich, gelten doch Eulen seit Urzeiten
als Hüterinnen der Weisheit. Klar war auch, es würde eine von den
Weltbürgerinnen unter den Eulen sein. Eine Schleiereule eben, deren Sippe
auf fünf Kontinenten zuhause ist. Und weil die Eulen mit den
Herzgesichtern oft in guter Nachbarschaft mit den Menschen lebten, waren sie
es, die zuerst die zunehmende Abwesenheit der Weisheit bemerkten. Und so hat es
sich zugetragen: Eines Nachts kreischte eine Schleiereule gar
jämmerlich und rief mit dem Schrei ihre große Familie zusammen. Sie
hatte in der Dämmerung auf einem öden Marktplatz das letzte lebende
Korn der Weisheit aufgelesen und wusste nicht, was damit werden sollte. Doch
auch die nächtliche Eulenversommlung kannte keinen geeigneten
Nährboden. So blieb nur, das Weisheitskorn im Polareis einzufrieren, bis
die Menschen sich wieder eine klügere Zeit wünschten. Aber wie sollte
das Korn dorthin gelangen? Nicht die Weite des Fluges war das Problem, sondern
die große Kälte, die dort herrschte. Keine Schleiereule hatte jemals
in der Antarktis gelebt. Dennoch begab sich im Morgengrauen die besonders
weitsichtige und warmherzige Schleiereule namens Novatrix auf den ungewissen
Weg. Sie musste einfach der großen Verpflichtung, die die Eulengilde von
Anbeginn der Zeit in sich trug, folgen. So flog Novatrix tapfer viele nur
dämmernde Tage und stockfinstere Nächte, bis sie halb erfroren
endlich den schmalen Grat mit dem funkelnden Eistropfen erreichte. Keiner sah
die stille Freude dieses Augenblicks, in dem die Eule wie lichter Glanz
erstrahlte obgleich sie ihr nahes Ende schon spürte. Auf dem Rückflug
geriet der müde Vogel sehr bald in einen wilden Sturm, der ihn
schließlich zu Boden drückte. Zwei Schneeeulen sahen den Absturz
zwar, aber sie konnten die Eulenschwester nicht mehr retten. Mit letzter Kraft
verriet Novatrix den weißen Eulen nur noch, wo sie das Weisheitskorn
verwahrt hatte. So wurden die Schneeeulen zu Hüterinnen des schlafenden
Schatzes und da die weißen Eulen wirklich sehr schweigsame Gesellen
waren, blieb das Versteck auch lange geheim ... |