Kalender 2006 - Februar

Im Land der Schneeulen tickte die Zeit noch noch dem uralten Werden und Vergehen. Hier kreuzte kein Fischfangschiff, waren keine Forscher zugange. Ünberührt vom Wandel in der Welt lebten die Tiere ihren ehernen Rhythmus des Seins. So war die Schneeeule Heri auch nicht sonderlich erstaunt, dass sich Novatrix für das Leben anderer opferte Sie wusste einfach, ohne solche Gaben überdauert keine Gemeinschaft. Heri hatte inzwischen schon viele Kinder bekommen, aber keines war wie ihr jüngster Sohn, der lebhafte Clarus. Kristallklar war seine Seele. Er konnte keine Furcht, spielte mit jungen Walrossen und Eisbären, neckte die Robben und segelte mit Adlern wie Schneegänsen durch die Lüfte. Clarus liebte alles, was ihn umgab. Die Eulenmutter war nicht mehr die Jüngste, als sie mit ihrem Sohn in einer leisen Nacht aufbrach. Sie sagte nur: "Komm es ist soweit, ich muss dir mein Geheimnis zeigen." Sie starteten aus der weiten Ebene. Schneeflocken tanzten und deckten wieder die vom Wind blank gefegten Eisfelder zu. Bald erreichten die Vögel jene bizarre Bergwelt, die fantastisch türkis-blau im fehlen Mondlicht schimmerte. Als die zwei Eulen auf dem schmalen Grat am äußersten Rand des Eislandes landeten, ahnte der junge Clarus, in dieser Nacht würde seine Kindheit enden.

Heri wedelte mit ihren Flügeln den immer noch wohlgeformten Eistropfen vom Schnee frei und sprach: "Sieh, Clarus das ist des letzte Weisheitskorn der Weit. Novatrix, eine Schleiereule aus Feuerland, hat es gerettet. Es muss hier verborgen bleiben, bis eine Eule kommt und es zurückfordert. Von nun an bist du der Wächter dieses Schatzes. Du musst hier bleiben, denn die Zugvögel berichten, die Menschen und ihre Maschinen rücken unserem Land immer näher. Man weiß nie, wann sie eintreffen." Der junge Vogel schaute sich ernst um: "Ich wusste ja, dass wir Eulen die Hüter der Weisheit sind, aber in dieser Einsamkeit?" "Weisheit sprießt nur in einer gedeihlichen Stille. Aber die gibt es auf der Erde kaum noch", erklärte Heri. "Dennoch, die Welt kann sich ja ändern. Wir müssen diese gefrorene Chance für sie bewahren." Mit diesen Worten nahm die Mutter Abschied von ihrem Sohn. Clarus spähte hellwach, aber sehr verlassen in die Nacht. Kein Laut war vernehmbar, nur der Wind pfiff mal leiser, mal lauter.

Bei Lichte betrachtet, sah der Ort wunderschön aus. Der schmale Grat bog sich wie eine Brücke über ein weites Wasser. Auch hier erwachten mit den ersten Sonnenstrahlen die Robben, Wale, Vögel, und ein listiger Schneefuchs schaute gelegentlich vorbei. Clarus war erleichtert, er musste nicht wirklich einsam sein, sondern nur ein neues Leben beginnen. Aber weil er ein Geheimnis zu hüten holte, umwehte den Vogel nun etwas Ungewisses, was die Tiere seiner neuen Umgebung witterten. So erfreute sich Clarus, der Wächter, zwar an der Gegenwart seiner Nachbarn, lebte aber in sich gekehrt. Irgendwann beobachtete er nur noch tagein, tagaus den Lauf der Sterne, der Gezeiten und des Windes und bedachte das Leben an sich. Er konnte bald Stürme voraussagen und wie stark die Eisschmelze sein wird. Das rettete manchem Getier das Leben. Und wenn seither die Tiere im Eisland über Clarus redeten, dann nannten sie ihn nur noch den weißen Weisen vom Grat ...