Vor langer Zeit
- keiner weiß mehr, wann es gewesen ist - kam es unter den Tieren und
Menschen unverhofft zu einem Streit darüber, wer wohl der
Größte von allen sei.
"Ich!", brüllte der Löwe.
"Denn ich verteidige das Revier. Mein Organisationstalent und mein
ausgeprägtes Sozialverhalten sind geradezu vorbildlich. Deshalb bin ich
der Größte." "Das ich nicht lache", schnatterte die Gans, die soeben
dabei war, sich das Federkleid zu putzen. "Ich bin der beste Wächter und
fliege über 2000 Kilometer, wenn's sein muss, um in wärmere Gefilde
zu gelangen. Das macht mir keiner nach." "Wer sich dermaßen anstrengen
muss", grunzte das Schwein, "der kann unmöglich der Größte
sein. Bin ich es nicht, der von Essensresten sich ernährt und im Notfall
auch übelste Abfälle nicht verschmäht? Wer ökonomisch
handelt wie ich, der ist automatisch der Größte." "Der
Größte bin ich!", wieherte das Pferd temperamentvoll. Und so ging es
unermüdlich weiter, denn jeder wollte der beste und Größte
sein, ebenso der Mensch, der in Anspruch nahm, die Krone der Schöpfung zu
sein.
"Schnapp,schnapp", machte das Krokodil, das extra vom Nil
angereist war. "Alle Anwesenden hier haben sich bisher zu Wort gemeldet, nur
die Eule nicht. Ich warne euch! Ihr kann man nicht trauen." "Bravo!", schrie da
der Mensch. "Nicht umsonst zieht sie es vor, nicht an der Diskussion
teilzunehmen, denn wäre sie ehrlich, würde sie ihre Meinung sagen."
"So ist es", brummte der Bär. "Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir in
Streit geraten sind. Sie ist schuld an allem!" "Sehr richtig, da gibt es keinen
Zweifel", pflichtete der Mensch bei, "ist sie doch das gemeinste und
hinterlistigste Geschöpf unter der Sonne. Sie scheut den Tag, weil sie
viel auf dem Kerbholz hat. Tagsüber kann sie sich deswegen nirgendwo sehen
lassen und verkriecht sich lieber in der Dunkelheit der Nacht." Endlich hatten
alle ihren gemeinsamen Feind gefunden, was sie wieder zusammenschmiedete. "Die
Eule ist schuld an allem!" schrie jeder wie besessen.
Daraufhin wollte die Eule sich gegen die bösen Angriffe
verteidigen, ihre Unschuld beteuern, presste jedoch nur ein "Uuuuhhh" oder so
ähnlich aus der Kehle heraus, da sie bereits von der aufgebrachten Menge
bedroht wurde. Sie zog es vor, sich schleunigst in Sicherheit zu bringen. Also,
der Eule gelang es somit nicht mehr, uns etwas mitzuteilen. Im Laufe der Zeit
aber ist das durchgesickert, was sie uns sagen
wollte:
"Unmöglich!" wollte die Eule sagen. "Der
Streit, der liegt mir schwer im Magen. Wer größer sein will als
wir alle, der tappt in seine Hochmutsfalle, der ist für mich recht
überheblich, für die Gemeinschaft unerträglich. Besinnt
euch auf die alten Werte, auf's Sanfte, nicht auf Bosheit - Härte.
Denn fruchtbar mögen wir nur werden, wenn Frieden herrscht auf
dieser Erden. Schickt ihr mich fort, so soll es sein, dann bleib ich
fürderhin allein, so lange, bis ihr euch besinnet, neu, ohne Hass
und Streit beginnet."
Bedauerlicherweise
wartet die Eule bis heute vergeblich auf Frieden. Das "Uuuuhhh" aber, das ihr
sprichwörtlich im Halse stecken blieb, wurde von den Artgenossen
aufgegriffen und zu einer Sprache weiterentwickelt, die bis in die feinsten
Lautverästelungen hienein für die Vögel der Nacht aktuell
geblieben ist. |